Ost und West

„Ost – West“. Vielfalt oder Unterschiedlichkeit?

Von Heidi Behrens

Ein zentraler Bestandteil der mehrdeutigen (Beziehungs-)Geschichte von Ost- und Westdeutschen besteht darin, wie sie seit der friedlichen Revolution mit- und übereinander gesprochen haben und sprechen und welche fortwirkenden Bilder dabei entstanden sind. 1989/90 brachte insbesondere die Losung „Wir sind ein Volk!“ ostdeutsche Vorstellungen einer ungebrochen nationalen Verbundenheit zum Ausdruck. Neugier auf die jeweils anderen Lebensgeschichten kennzeichnete hingegen in den ersten Jahren vielerlei Begegnungen auf beiden Seiten der ehemaligen Grenze. Im Verlauf des Einigungsprozesses zeigten sich jedoch (mit einem gewissen Trotz ausgelebte) Differenzen und zunehmende Verständigungsprobleme unter Zeitgenoss_innen aus der Bundesrepublik und der DDR: Die „innere Einheit“ ließ sich wider Erwarten nicht so einfach herstellen, obwohl sie politisch und mit Bildungsaktivitäten unterstützt wurde; Einzelne und Gruppen bildeten unter den Bedingungen des „Zusammenwachsens“ vielmehr Identitäten neu aus (Lay/Potting 1997). 

Inzwischen wird von einer „nachgewachsenen“ gesamtdeutschen Generation ohne eigene Erinnerungen an 1989 erwartet, dass sie sich mit der deutschen Geschichte seit 1945 beschäftigt und möglichst daraus für heute lernt. Doch meist muss das Interesse mit attraktiven Bildungsangeboten überhaupt erst geweckt werden. 

Wenn das Bildungsteam Berlin-Brandenburg e.V. sich bei seinem „Ost – West“-Modul wie im Gesamtprojekt auf Vielfalt oder Diversity konzentriert, zielt es außer auf die Aneignung von Wissen auf Antidiskriminierung und Gleichstellung. So fordert es in Seminaren mit Teilnehmenden aus den sogenannten neuen wie den alten Bundesländern dazu auf, offensichtliche oder gefühlte Zurücksetzungen und Ungleichgewichte wahrzunehmen und diesen im Rahmen von Bildungsveranstaltungen etwas entgegenzusetzen. Die beteiligten Jugendlichen können eine eigene kritische Perspektive einnehmen, sowohl auf den zurückgelegten Weg als auch auf die Zukunft des Ost-West-Verhältnisses, welches sie mitgestalten werden.

Differenz und Dominanz im deutsch-deutschen Dialog

Ost- und Westdeutsche bestehen im Vergleich nicht selten auf Unterschieden, etwa wenn es um Anlässe und die Intensität von Familiengesprächen über die jüngste Vergangenheit geht. Ob die Eltern oder Großeltern in der DDR dem SED-Regime nahestanden, ob sie zu oppositionellen Gruppen Kontakt hatten, religiös gebunden waren und/oder einer Minderheit angehörten, spielt eine Rolle im Selbstverständnis auch der Kinder und Enkel – und im Austausch mit anderen. In die Haltung Jüngerer zur gesamtdeutschen Gegenwart fließt das Erfahrungswissen der Älteren mehr oder weniger mit ein, manchmal in rechtfertigender Weise. Mehr als Westdeutsche äußern Ostdeutsche ein Bedürfnis einerseits nach Vergewisserung, andererseits nach Anerkennung ihrer vielgestaltigen Biografien und Hintergründe: Vielfach sorgt die „andere Seite“ dafür, „dass ich daran erinnert werde, wo ich herkomme“ (Maier 2014). In der Vergangenheit, vor allem in den Medien, sei ein wertender „Fremdblick“ fast ausschließlich nach Osten gerichtet gewesen, wodurch sich die westdeutsche Dominanz verfestigt habe (Miethe 2014: 130)

Deswegen sind, wie im Modul praktiziert, gegensteuernde Impulse wichtig, d.h., parallel zur Geschichte der DDR ist auch die Geschichte der Bundesrepublik vor dem Fall der Mauer zu betrachten, nicht zuletzt die allmählich vollzogene Demokratisierung der Gesellschaft. Sichtbar wird dann zugleich: Die Westdeutschen konnten engagiert sein in Bürgerinitiativen oder Parteien, sie waren Vereinsmitglieder, kamen aus Flüchtlingsfamilien (u.a. aus der DDR) oder verstanden sich als Westfal_innen, Holsteiner_innen usw.; sie hatten vor dem deutschen vielleicht einen italienischen, griechischen oder türkischen Pass. – Auf welchen Nenner lässt sich solche mehrfache Diversität – außer Ost/West also die Buntheit beider „Erfahrungsgemeinschaften“ - bringen? Gelingen Vergleiche, ohne Schubladen zu reproduzieren? Pädagogischer Optimismus ist insofern angebracht, als geduldige Annäherungen häufig zu überraschenden „Enttypisierungen“ (Lutz Niethammer) geführt und geografische Herkünfte relativiert haben.  

Perspektiven wechseln und erweitern

Die Diktatur verharmlosenden Familienüberlieferungen wie auch den oft beklagten Wissenslücken bei Jugendlichen kann Bildungsarbeit mit Belehrungen nicht abhelfen. Zielgruppen müssen nämlich spezifisch angesprochen und für die Mitarbeit gewonnen werden. Die Stärke der außerschulischen Bildung erweist sich außer in einer fantasievollen Vermittlung im Bemühen um wechselseitiges Verstehen und Akzeptanz. In Seminaren wird, und das belegt das Modul auf anschauliche Weise, mit anderen als unterrichtlichen Zugängen Auseinandersetzung ermöglicht und der Vielstimmigkeit Raum gegeben. Vorstellungen über „die anderen“ lassen sich in der Beschäftigung mit Alltags- und Erfahrungsgeschichte (Schule, Erziehung, Reisen, Feste …) überdenken, ergänzen, sogar de-konstruieren, ohne die großen Fragen nach Herrschaftsformen, Repression und widerständigem Verhalten außer Acht zu lassen.

Die Arbeit mit Lebensgeschichten und mit Zeitzeug_innen unterschiedlichen Alters eröffnet die Chance von Blickwechseln bis hin zur Multiperspektivität umso mehr, wenn historisch-politische Themen selbst gewählt und bearbeitet, wenn Recherchen im lokalen oder sozialen Umfeld angeregt werden. Dafür braucht es allerdings Kenntnisse auch auf Seiten der Lernenden, etwa: Wie führt man ein Interview und wie wertet man es nachvollziehbar aus? (Vgl. Grenzlandmuseum 2012) Wie werden private Fotoalben, Dokumente oder Gegenstände aus der DDR und der Bundesrepublik gedeutet? (Engelhardt u.a. 2011) Auch das Team – wer ist Expert_in für was und wer leitet die Seminararbeit? – spielt eine nicht nur symbolische Rolle im Hinblick auf die Projektziele und kann Ost-West-Schieflagen vermeiden – oder erneut bestätigen. 

Weitere Zeitzeug_innen entdecken – Verständigung erproben

Das hier vorgestellte Konzept verbindet berufliche und historisch-politische Bildung auf ungewöhnliche Weise, unter anderem durch Exkursionen zu historischen Orten und Museen. Und Lerngelegenheiten für die Auszubildenden scheinen nicht einmal ausgeschöpft; sie lassen sich z.B. in Betrieben und früheren Kulturhäusern suchen. Veteran_innen der Arbeitswelt werden noch selten befragt, dazu gehören von Diskriminierung betroffene ehemalige Vertragsarbeiter_innen aus der DDR ebenso wie Arbeitsmigrant_innen der damaligen Bundesrepublik.

Es bleibt wohl auf längere Sicht eine Herausforderung, Lebensverläufe Ost- wie Westdeutscher und damit kompliziert verwobene Fremd- und Selbstzuschreibungen zu interpretieren. Seit die „innere Einheit“ nicht mehr Ziel von Förderpolitik und konkreter Bildungsarbeit ist, können sich Lehrende wie Lernende an der vielfältigen, geschichtspolitisch nach wie vor aufgeladenen Wirklichkeit orientieren. Während mehrtägiger Seminare wird Verständigung erprobt, unter anderem indem Teilnehmende öffentlich kontroverse Standpunkte erörtern. Gerade im Hinblick auf diese Einladung zur gemeinsamen Reflexion bietet das Modul „Ost – West“ ein wegweisendes Beispiel. 

Literatur

Kerstin Engelhardt/Norbert Reichling/Andreas Wagner: Geschichtskoffer – Jugenderfahrungen in Ost- und Westdeutschland, Politische Memoriale e.V. in Verbindung mit dem Bildungswerk der Humanistischen Union NRW e.V., 2011. 

Grenzlandmuseum Eichsfeld (Hg.): Bleib nicht stumm. Zeitzeugengespräche führen, Teistungen 2012 

Conrad Lay/Christoph Potting (Hg.): Gemeinsam sind wir unterschiedlich. Deutsch-deutsche Annäherungen, Bonn 1997: Bundeszentrale für politische Bildung. 

Anja Maier: Wir Missvergnügten. Identität ist nichts, was man einfach so abstreift: 25 Jahre nach dem Mauerfall blickt eine Ostlerin zurück, in: taz vom 23./24.8.2014. 

Ingrid Miethe: Dominanz und Hierarchien begegnen. Interkulturelle Dimensionen deutsch-deutscher Biogafiearbeit, in: Christian Ernst (Hg.): Geschichte im Dialog? ‚DDR-Zeitzeugen‘ in Geschichtskultur und Bildungspraxis, Schwalbach/Ts. 2014, S. 128-141.

Über die Autorin

Dr. Heidi Behrens, Dipl.-Päd., historisch-politische Bildnerin; bis 2008 Mitglied im Leitungsteam des Bildungswerks der Humanistischen Union Essen, seitdem freiberuflich tätig. Arbeitsschwerpunkte u.a.: Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus; Gedenkstättenpädagogik und Erinnerungskultur; DDR- und deutsch-deutsche Geschichte. 

Aus der Praxis

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