Gute Arbeit: 100 Jahre Normalarbeitsverhältnis?
Von Ingo Siebert
Mindestlohndebatte, Leistungsdruck und geringe Bezahlung bei Paketzusteller-Unternehmen, Entlassungen bei einer Drogeriemarktkette und in Kaufhäusern, mangelhafter Arbeits- und Umweltschutz, fehlende Rechte für Arbeitnehmer_innen. Wir wissen, was schlechte Arbeit ist.
Aber was meinen wir eigentlich, wenn wir von „guter Arbeit“ sprechen? Warum ist uns Arbeit so wichtig und welche Bilder und Vorstellungen von Arbeit haben wir? Zunächst muss gesagt werden, dass es hier um bezahlte Arbeit, also Erwerbsarbeit geht. Das ist wichtig, weil viele Tätigkeiten, egal ob individuell oder gesellschaftlich notwendig, auch als Arbeit bezeichnet werden. Diese Tätigkeiten wie Hausarbeit, ehrenamtliches Engagement, autonome Tätigkeiten wie Hobbys genauso wie Zeiten der „Muße“ scheinen aber immer in irgendeiner Weise von der Lohnarbeit abhängig oder mir ihr verbunden zu sein. Bei der Erwerbsarbeit handelt es sich um eine Beschäftigung, für die wir Lohn erhalten, der unsere Existenz absichert, und deren Bedingungen in einem hohen Maße von anderen bestimmt werden. Wir suchen hier also nach der guten Erwerbsarbeit. Diese ist gut – so eine gewerkschaftliche Definition –, wenn die Beschäftigten bei der Gestaltung der Arbeit mitreden und mitbestimmen können, ein gerechtes Entgelt gezahlt wird, nachhaltiger Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie soziale Sicherheit garantiert sind und niemand einer Diskriminierung ausgesetzt ist.
Warum ist der Kampf für gute Arbeit in diesem Sinne so bedeutsam? Mit Blick auf die gesamte Menschheitsgeschichte ist die Lohnarbeit noch gar nicht alt. Dennoch ist sie heute die gesellschaftliche Richtschnur im Leben der meisten Menschen. Auf ihr beruhen die Existenzsicherung und die gesellschaftliche Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten, also der Zugang zu Ressourcen, die Versorgung mit Nahrung, Bildung, Kultur etc. Ein Leben ohne Arbeit scheint uns aber noch aus anderen Gründen nicht vorstellbar: Nicht nur weil Arbeit die finanzielle Grundlage für unser Leben schafft, sondern auch weil sich die meisten Menschen sich über Arbeit in der Form ihres Berufes definieren. Der eigene Beruf gehört meist zu den ersten Dingen, die wir nennen, wenn wir uns anderen vorstellen. Eine weitere, nicht zu unterschätzende Funktion von Arbeit besteht darin, dass oft ein maßgeblicher Teil unserer sozialen Beziehungen durch sie hergestellt und organisiert werden. Existenzsicherung, Identifikation und soziale Beziehungen – drei wichtige Gründe, warum wir „arbeiten“ und warum Arbeit gut sein muss.
Ich möchte im Folgenden verschiedene Aspekte beleuchten, die mit der Frage nach guter Arbeit zusammenhängen: Als Erstes will ich ein bedeutendes Kapitel aus der Geschichte der Arbeit ansprechen, in dem sich nach dem Ersten Weltkrieg zunächst in Nordamerika und Europa das sogenannte Normalarbeitsverhältnis entwickelt hat. Diese Entwicklung durchdringt unsere Vorstellung von guter Arbeit bis heute und vor ihrem Hintergrund finden alle aktuellen Diskussionen um gute Arbeit statt. Viele Ansprüche an Erwerbsarbeit haben sich in dieser spezifischen Phase des Kapitalismus herausgebildet. Weiter möchte ich zeigen, wie dieses Normarbeitsverhältnis erst in die Kritik und dann in die Krise geraten ist. Die Kritik und die Krise des Normarbeitsverhältnisses zu verstehen, kann uns helfen, die Frage zu beantworten, was gute Arbeit ist, und Bündnispartner*innen im Kampf für gute Arbeit zu finden.
Erwerbsarbeit und „Normalarbeitverhältnis“
Durch die Industrialisierung hat sich eine sehr spezifische Form der Arbeit herausgebildet, die noch heute unsere Vorstellung von Arbeit prägen. Eine ganze Epoche der industriellen Produktion ab den 1920er Jahren ist nach dem Autohersteller Henry Ford benannt. Ford wollte Autos massenhaft produzieren und verkaufen, um aus seinem Kapital noch mehr Kapital zu machen, was als Akkumulation bezeichnet wird. Diese Form der Akkumulation beruhte auf Massenproduktion und Massenkonsum und hat für eine allgemeine Ausbreitung der Erwerbsarbeit und auch der Warenproduktion gesorgt. Die Massenproduktion benötigte eine Veränderung der Arbeit, die Arbeitskraft der Arbeiter_innen effektiver und effizient umsetzen kann. Den Produzent_innen wurde in der Massenproduktion die unmittelbare Kompetenz für die Herstellung eines Produkts entzogen. Hierfür war das Management zuständig. Der eigentliche Arbeitsprozess war dabei durch Arbeitsteilung geprägt, d.h., er wurde in verschiedene, oft sehr kleinteilige Arbeitsschritte zerlegt und dadurch rationalisiert, die Arbeitskraft der Arbeiter*innen wurde effektiv ausgenutzt. Eine einzelne Arbeitskraft war nur noch für einen kleinen Teil der notwendigen Tätigkeiten zuständig, z.B. das Festziehen einer Schraube oder das Aufbringen von Farbe. Der Film „Moderne Zeiten“ von und mit Charles Chaplin veranschaulicht diese arbeitsteilige Produktion. Die Arbeitsbedingungen waren schlecht und gekennzeichnet durch Monotonie, lange Arbeitszeiten, Zeitdruck, niedrigen Lohn und hohe Unfallgefahr. Dazu kam die allgemeine Entfremdung der Arbeit, die für den Kapitalismus typisch ist.
Aber der Fordismus hatte für die Arbeiter_innen aber auch positive Aspekte, und hier kommen die Arbeiter_innenbewegung und die Gewerkschaften ins Spiel. Bleiben wir jedoch zunächst bei den Fabrikant*innen. Sie hatten jetzt zwei Probleme zu lösen: Erstens brauchte die arbeitsteilige Massenproduktion disziplinierte und zuverlässige Arbeiter*innen und zweitens mussten die massenhaft produzierten Waren verkauft werden. Es brauchte also eine Masse von Menschen und nicht nur eine kleine finanzkräftige Elite, die genug Geld hatte, um sich die Produkte zu kaufen. Die bisherigen kleinen finanziellen Eliten reichten dafür nicht aus. Geregelte Arbeitszeiten waren zu Beginn des Fordismus für die Arbeitgeber_innen wichtig, da es diese bis dahin noch nicht gab. Ford handelte z.B. aus, dass die Arbeiter_innen auf den „Blauen Montag“ verzichteten, und gab ihnen dafür den halben Samstag frei. Die Arbeitszeit verdichtete sich und wurde geregelter. Gleichzeitig erhöhte er den Lohn, sodass sich die Arbeiter_innen auch die von ihnen produzierten Autos leisten konnten. Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen und Arbeitslohn wurden aber nur so weit verbessert, dass die optimale Rendite für das Kapital herauskam. Wollten die Arbeiter_innen bessere Arbeit, mussten sie dafür kämpfen. Arbeiter_innen schlossen sich daher Gewerkschaften an und Arbeitskämpfe standen auf der gesellschaftlichen Tagesordnung. Ohne Arbeiter_innenbewegung und Gewerkschaften gäbe es z.B. keine 5-Tage- und keine 40-Stunden-Woche in Deutschland. Die stärksten Gewerkschaften dieser Zeit waren die Industriegewerkschaften.
Die Aufgabe des Staates war es, Rahmenbedingungen für die Aushandlung der unterschiedlichen Interessen von Kapital und Arbeit und ein Mindestmaß an sozialer Absicherung für Arbeiter_innen sicherzustellen. Das nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene „Normalarbeitsverhältnis“ war geprägt durch klare Regeln, also die Festlegung von Arbeitszeiten, Arbeitsort, Arbeitslohn, Arbeitsbedingungen und Mitbestimmung in Arbeits- und Tarifverträgen. Damit verbunden und von der Erwerbsarbeit abhängig war eine soziale Absicherung im Falle von Krankheit und Arbeitslosigkeit sowie für die Rentenzeit. Dies sind heute auch noch zentrale Elemente von „guter Arbeit“. Allerdings finden die heutigen Auseinandersetzungen um „gute Arbeit“ unter völlig anderen Rahmenbedingungen statt. Der gebräuchliche Begriff „Normalarbeitsverhältnis“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die hier beschriebenen Beschäftigungsverhältnisse nur für einen Teil weißer, männlicher Industriearbeiter galt, zumal für jene in den kapitalistischen Industrienationen. Im globalen Maßstab herrschten und herrschen schon immer andere, ungarantierte Verhältnisse. Die Reproduktionsarbeit von Frauen bleibt bei diesem Begriff ebenfalls außen vor.
Krise des "Normalarbeitsverhältnisses"
Mit dem Fordismus hatte die ökonomische Integration in den kapitalistischen Nationalstaaten ihren Höhepunkt erreicht. Steigende Lohneinkommen und „Massenwohlstand“ waren die Grundlage für eine wachsende Rentabilität des Kapitals. Doch seit Mitte der 70er Jahre erleben wir einen tiefgreifenden Umbruch. Zunächst gab es Kritik am Arbeits- und Produktionsmodell: Aus feministischer Sicht wurde die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Fordismus angegriffen, denn das Normalarbeitsverhältnis galt vor allem für Männer. Im Modell der fordistischen Kleinfamilie war der Mann auf die Rolle des Ernährers der Familie durch Erwerbsarbeit festgelegt und die Frau konnte höchstens Teilzeit erwerbstätig sein, hatte sie doch die Reproduktions- und Hausarbeit zu erledigen. Frauen kritisierten zunehmend diese Arbeitsteilung und die mit ihr einhergehende Abhängigkeit und erkämpften sich einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt.
Ökologische Positionen und internationale Solidaritätsbewegungen kritisierten das auf immerwährendem Wachstum beruhende Prinzip von Massenkonsum und Massenproduktion und den damit verbunden Verbrauch von Energie, die Zerstörung der natürlichen Grundlagen sowie die Ausbeutung der Menschen des globalen Südens und die zumindest partielle Zerstörung den dortigen Lebensbedingungen.
Es gab mindestens drei Gesichtspunkte, die eine Diskussion um die „Zukunft der Arbeit“ – so ein Motto der IG-Metall Anfang der 1980er Jahre – entfachten. Eine „Humanisierung der Arbeit“ wurde gefordert, die auch eine Arbeitszeitverkürzung auf 35 Wochenstunden beinhaltete. Vielmehr sollte das ökonomische Wachstum nicht nur finanziell durch mehr Lohn an die Arbeiter_innen weitergegeben werden, sondern auch durch eine Erhöhung der Lebensqualität in der Form kürzerer Erwerbsarbeitszeit. Die Debatte war noch nicht richtig in Fahrt gekommen, da zeigte sich, dass der Fordismus in eine Krise geraten war und die von ihm geprägten Lebens- und Arbeitsmodelle daher fraglich geworden waren. Erwerbsarbeit war seit Mitte der 1970er Jahre tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen ausgesetzt, die ihre Integrationsfähigkeit erheblich beeinflussten und spezifische Probleme sozialer Exklusion hervorbrachten. Gleich vier Entwicklungen haben diese Krise ausgelöst:
1. Die Mikroelektronik hat die industrielle Arbeit stark verändert, denn nun wurden weniger Arbeitskräfte im eigentlichen Produktionsprozess benötigt. Es konnte flexibler, schneller, mit weniger und besser ausgebildetem Personal produziert werden. Diese Form der Produktion war kapitalintensiver, es wurde mehr in Maschinen und Flächen investiert, weniger in Personal.
2. Der Arbeitskräftebedarf hat sich in die Dienstleistungsbereiche Logistik, Steuerung, Finanzierung, Versicherung und haushaltsnahe Versorgung verschoben.
3. Eine neue weltweite Arbeitsteilung ist entstanden, weil Produktionsstätten und Dienstleistungserbringung immer weniger ortsgebunden ist und von Konzerne dorthin verlagert wird, wo sie die günstigsten Bedingungen finden, einschließlich niedriger Löhne und sozialer Standards.
4. Es ist ein durch den Finanzmarkt getriebener globaler Kapitalismus entstanden, der gewaltige Summen an nationalstaatlichen Kontrollen vorbei transferiert und nicht mehr in die Produktion investiert, sondern spekulativ einsetzt.
Diese Veränderungen sind verbunden mit einer neuen Dynamik und Qualität von Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung: Breite Bevölkerungsschichten in Nordamerika und Europa sind davon betroffen oder zumindest bedroht, bestimmte Gruppen – u.a. Migrant_innen, Jugendliche, Alleinerziehende und Langzeitarbeitslose – sind besonders gefährdet, und Armut wird vor dem Hintergrund des gleichzeitigen Wachstums, an dem nicht partizipiert werden kann, individuell viel stärker erlebt.
Zwei Phänomene stechen bei dieser Entwicklung besonders hervor: Das erste besteht darin, dass immer mehr Menschen dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind und sich der Anteil derer erhöht, die ein Jahr und länger arbeitslos sind. Diese Langzeitarbeitslosen sehen sich einer Situation ausgesetzt, in der sie nicht arbeiten können, aber arbeiten müssen. Dabei wird dieser Druck nicht nur durch die schwierige Situation der Existenzsicherung ausgelöst, sondern auch durch die Tatsache, dass die Leitbilder aus dem Fordismus gesellschaftlich weiterwirken. Dies wird auch beim zweiten Phänomen deutlich, das darin besteht, dass immer mehr Menschen trotz Arbeit arm sind („working poor“). Im Dienstleistungsbereich wird dieses Phänomen besonders gut sichtbar. In diesem Sektor gibt es zwar gut bezahlte Arbeitsplätze im Bereich der unternehmensbezogenen Dienstleistungen, allerdings entstehen insbesondere im Bereich haushaltsbezogener Dienstleistungen immer mehr geringfügige und befristete Beschäftigungsverhältnisse, Zeit- und Leiharbeit und Scheinselbstständigkeiten, welche oft kein existenzsicherndes Einkommen und soziale Sicherheit garantieren.
Die Elemente der Kritik und der Krise der fordistischen Produktionsweise zeigen Bedingungen auf, vor deren Hintergrund wir „gute Arbeit“ diskutieren und verwirklichen müssen.
Über den Autor
Ingo Siebert ist Dipl.- Sozialwissenschaftler, langjährige Erfahrungen in der Jugend- und Erwachsenenbildung. Seit August 2006 leitet er das August Bebel Institut in Berlin und entwickelt Angebote zu aktuellen Fragen der Stadtpolitik und Geschichte der Arbeiter_innenbewegung.
Aus der Praxis
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