Einführung: Menschen mit Behinderung – Inklusion und Teilhabe verwirklichen
Von Lisa Reimann
Was ist „Behinderung“?
„Behindert ist man nicht, behindert wird man.“ Dieser Satz der Behindertenbewegung steht für einen Perspektivwechsel. Behinderung wird nicht mehr als individuelles Problem, als körperliches Defizit verstanden, sondern als ein Umstand, der vor allem aufgrund von Umfeldbarrieren entsteht. Dieses soziale Modell von Behinderung löst das medizinische und defektologische Modell ab und nimmt die Lebensbedingungen in den Blick. Die Verantwortung, Zugänge zu schaffen, liegt damit bei der Gesellschaft. Nicht der Mensch mit Behinderung muss sich z.B. einer Institution anpassen, sondern die Einrichtung muss Bedingungen schaffen, die Teilhabe ermöglichen. So gesehen entsteht Behinderung nicht dadurch, dass jemand nicht lesen kann, sondern dadurch, dass die Umwelt zu wenig Alternativen zur Schriftsprache, z.B. Piktogramme, anbietet. Die Behinderung besteht nicht darin, dass jemand im Rollstuhl sitzt, sondern dass er_sie aufgrund von Stufen nicht am Theaterbesuch teilnehmen kann. Die Behinderung liegt nicht allein darin, dass ein_e gehörlose_r Musemsbesucher_in gehörlos ist, sondern dass die Museumsführung nicht auch in Gebärdensprache angeboten wird. Behinderung kann als Wechselwirkung zwischen der eigenen Beeinträchtigung und den umweltbedingten Barrieren gesehen werden – Barrieren, die Inklusion und gleichberechtigte Teilhabe verhindern. Menschen mit Behinderungen fühlen sich vor allem dadurch „behindert“, dass sie nicht uneingeschränkt und gleichberechtigt teilhaben können. Statt übertriebener Fürsorge, Mitleid oder gar Bevormundung gilt es echte und gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Das bedeutet auch, dass nichtbehinderte Menschen über Privilegien, Benachteiligungen, Barrieren und Ausgrenzungsdynamiken nachdenken. Das Verständnis von Behinderung entwickelt sich dabei ständig weiter.
Behinderung im historischen Kontext
Um die Forderung nach Inklusion und den damit einhergehenden Wandel von Bildungssystemen, Strukturen und Einrichtungen besser nachvollziehen zu können, hilft ein Blick in die Vergangenheit. Noch viel zu wenigen Menschen ist bewusst, dass ca. 200.000 Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung während des Nationalsozialismus als „lebensunwert“ bezeichnet und auf grausame Art und Weise ermordet wurden, weil sie den rassenhygienischen Vorstellungen der Nationalsozialisten nicht entsprachen. Bei der von Hitler befohlenen „T4-Aktion“ wurden von 1940 bis 1941 Menschen mit Behinderungen aus den damaligen „Anstalten“ oder den Familien geholt, in so genannte „Euthanasie“-Tötungsanstalten gebracht und systematisch umgebracht, zwangssterilisiert oder für grausame Experimente missbraucht. Darunter waren auch viele Kinder („Kindereuthanasie“). Der Begriff „Euthanasie“ bzw. „Gnadentod“ sollte die grausame Mordaktion verschleiern, die nach 1942 nicht mehr zentral, sondern dezentral fortgesetzt wurde. Die Bezeichnung T4-Aktion leitet sich ab von der Zentraldienststelle T4 in der damaligen Tiergartenstraße 4 in Berlin-Mitte, der Organisation, die die Ermordung behinderter Menschen organisierte.
Zwei Jahrzehnte später glaubten viele, dass Menschen mit Behinderungen am besten in Sondereinrichtungen aufgehoben wären. Man nahm an, dass Teilhabe und Integration ausgerechnet auf dem Weg der Separation gefördert werden könnten. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Wohnheime und ca. zehn verschiedene Förderschultypen entstanden. Fremdbestimmung war an der Tagesordnung. Menschen mit Behinderungen konnten nicht selbst bestimmen, wo sie leben wollten, welche Hilfen sie benötigten, wer die Hilfen durchführte und wann und wie die Hilfe erbracht werden sollte. Angesteckt von der US-amerikanischen Independent-Living-Bewegung entstanden dann in den 1970er Jahren auch in Deutschland sogenannte „Krüppelgruppen“ (Selbstbezeichnung), die sich gegen bevormundende Fürsorge zur Wehr setzten. Menschen mit Behinderungen forderten Kontrolle über ihr Leben und über die Organisationen der „Behindertenhilfe“. Der Protest richtete sich gegen separierende Heime, Behördenwillkür, Mobilitätsbarrieren, Werkstätten, die Pharmaindustrie, gegen Reha-Zentren, Psychiatrien, Sonderschulen und Medien, die Menschen mit Behinderung nicht ernst nahmen. Ziele waren eine Antidiskriminierungspolitik und Gleichstellungsgesetze für behinderte Menschen. In Berlin entstand 1975 die erste staatliche Integrationsklasse. Im gleichen Jahr wurden mit der Psychiatrie-Enquête die unmenschlichen Missstände in den Psychiatrien thematisiert.
Mit der UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 in Deutschland in Kraft trat, gewinnt das Motto der „Krüppelbewegung“ „nichts über uns - ohne uns“ an menschenrechtlicher Bedeutung. Deutschland hat sich damit verpflichtet, Selbstbestimmung, gleichberechtigte Teilhabe, Partizipation und Inklusion umfassend in allen Lebensbereichen sicherzustellen. Somit steht Inklusion nicht mehr zur Diskussion. Sie ist zu einem einklagbaren Recht geworden. Nicht ob, sondern wie Inklusion gestaltet werden kann, ist die aktuelle Frage im Umsetzungsprozess.
Behinderung und Gesellschaft in Zahlen
10% aller Menschen dieser Erde haben eine Behinderung. 95% der Beeinträchtigungen treten erst im Laufe des Lebens auf. 179.000 Menschen mit Schwerbehinderungen suchten im Jahr 2014 in Deutschland eine Arbeit. Die Quote der Arbeitslosen mit Behinderungen ist doppelt so hoch wie die allgemeine Arbeitslosenquote (vgl. Inklusionsbarometer Arbeit, 2014). Eine Umfrage der Aktion Mensch ergab, dass 55 Prozent die rund 10 Millionen Menschen, die in Deutschland mit Behinderung leben, nicht wahrnehmen. Jeder Dritte gab an, überhaupt keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderung zu haben. Nur acht Prozent der befragten Erwachsenen sagten aus, in Bildungseinrichtungen regelmäßig Kontakt zu Menschen mit Behinderung zu haben (vgl. Aktion Mensch/INNOFACT AG 2012).
Eine weitere Umfrage im Auftrag der Lebenshilfe ergab, dass nur 22 Prozent der Bevölkerung von der UN-Behindertenrechtskonvention überhaupt gehört haben. 88 Prozent denken bei Menschen mit so genannter „geistiger Behinderung“ zuerst an „hilfsbedürftig“.
Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung meint, dass der Besuch einer speziellen Förderschule für Kinder mit so genannter „geistiger Behinderung“ am besten sei (vgl. Allensbach Untersuchung/Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. 2014). Dabei haben Studien immer wieder festgestellt, dass Schülerinnen/Schüler mit dem Förderschwerpunkt “geistige Entwicklung” im Gemeinsamen Unterricht gute Leistungs- und Sozialentwicklungen machen. Noch immer lernen bundesweit über 70% der Kinder mit Förderbedarf an Förderschulen. 2/3 der Förderschüler/innen verlassen die Förderschule ohne Schulabschluss.
Inklusion
Inklusion bedeutet Einschluss, Enthalten-Sein. Während das Konzept der Integration davon ausgeht, dass eine „Minderheit“ in eine bereits vorhandene „Mehrheit“ eingegliedert bzw. dazu geholt werden muss, geht es bei der Inklusion um Teilhabe von Anfang an. Alle Menschen sollen gleichberechtigt und chancengleich teilhaben können. Mit der Behindertenrechtskonvention UN-Behindertenrechtskonvention ist die Forderung nach Inklusion bekannter geworden. Inklusion und Antidiskriminierung müssen in Sinne der Konvention zusammengedacht werden, um Gleichberechtigung und Gerechtigkeit aktiv zu fördern. Menschen mit Behinderung sind im besonderen Maße von Exklusion betroffen, da sie in großer Anzahl in besonderen Wohnformen, in besonderen Schulen, in besonderen Arbeitsstätten usw. untergebracht sind und ihnen so Teilhabechancen genommen werden. Die getrennten Lebenswelten machen ein Aufeinanderzugehen und ein empathisches Miteinander schwierig. Inklusion bezieht sich auf alle Vielfaltsmerkmale, z.B. sexuelle Orientierung, Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Behinderung, Religion/Weltanschauung, Überzeugungen, Haarlängen, Altersgruppen, Nationalitäten usw. Die Inklusionsidee zielt auf eine inklusive, nicht-aussondernde Gesellschaft ab und setzt sich für die Vision einer inklusiven Gesellschaft ein. Vielfalt wird begrüßt und Diskriminierungen erkannt und abgebaut.
Inklusive Bildungssettings gestalten
Inklusion in Bildungszusammenhängen verwirklicht das Recht, gleichberechtigt mit anderen (nichtbehinderten) Menschen an Lernerfahrungen teilzuhaben. Verschiedenheit wird zum „Normallfall“ und Aussonderungstendenzen wird aktiv etwas entgegengesetzt. Die inklusive Pädagogik, die inklusive Didaktik, Barrierefreiheit und vor allem eine inklusive Haltung fördern Bildungsprozesse in heterogenen Lerngruppen. Die Lernziele sind ebenso wie die Lernvoraussetzungen unterschiedlich und bedürfen daher unterschiedlicher Methoden. „Bei der Inklusion geht es nicht um erzwungene Gleichheit, sondern um Vielfalt und Gleichberechtigung. Es geht nicht um Zwang, sondern um Toleranz und Gerechtigkeit. Es geht nicht darum, dass wir gnädig sind und Kinder mit Behinderungen dabei sein dürfen. Es geht darum, dass Voraussetzungen geschaffen werden, die die gleichberechtigte Teilhabe aller Kinder ermöglichen. Das ist ein großer Unterschied.“ (Lisa Reimann, Inklusive Bildung verstehen: Wieso, Weshalb, warum?, 2014)
Über die Autorin
Die Inklusionsexpertin Lisa Reimann lernte selbst von der ersten Klasse bis zum Abitur an der ersten staatlichen Integrationsschule im deutschsprachigen Raum. Sie beschäftigt sich heute mit Menschenrechten, Inklusion und inklusiver Bildung. Lisa Reimann studierte Pädagogik (Master of Arts) und gibt Fortbildungen zu den Themen „Inklusion“ und „inklusive Bildung“. Webseite der Autorin: www.inklusionsfakten.de
Aus der Praxis
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