Soziale Gerechtigkeit
Von Gisela Neunhöffer
„Nur eine mehrheitlich als sozial gerecht empfundene Gesellschaft wird auf Dauer das notwendige Potenzial zur Konfliktregelung und gewaltlosen Streitschlichtung zur Verfügung stellen können.“
Peter Imbusch, Befunde, Herausforderungen, Perspektiven, in: Erwin Carigiet u.a. (Hrsg.), Wohlstand durch Gerechtigkeit, Zürich 2006, S. 396.
Was mit dem Begriff soziale Gerechtigkeit gemeint ist, scheint auf den ersten Blick klar – das wissen wir doch alle, oder? Und alle sind dafür – wer ist schon für soziale Ungerechtigkeit? Dabei wird soziale Gerechtigkeit oft mit der Tendenz zu mehr sozialer Gleichheit assoziiert. Wenn genauer nachgefragt wird, wird aber deutlich, dass stark umkämpft ist, was als „sozial gerecht“ empfunden wird.
Einige Beispiele für soziale Ungerechtigkeit scheinen offensichtlich: die immer stärkere Ungleichverteilung von Einkommen und vor allem Vermögen; Löhne, die nicht zum Leben reichen – ob hierzulande oder in Ländern, wo die Produkte hergestellt werden, die wir verbrauchen; Renten auf Hartz-IV-Niveau nach einem Leben voller Arbeit; mangelnde Bildungschancen in ärmeren Ländern oder hierzulande für Kinder aus ärmeren Familien … Es gibt jedoch Vertreter_innen von Philosophien oder Ideologien, die auch bei solchen Verhältnissen keine soziale Ungerechtigkeit erkennen können, solange nur alle formal den gleichen Zugang zum „freien Markt“ haben.
Vertreter_innen des Neoliberalismus, allen voran der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek (1899–1992), setzen unter anderem an der Schlüsselfrage „soziale Gerechtigkeit“ an, um vermeintlich konsensuale gesellschaftliche Normen in Frage zu stellen und ihr Diktum der Freiheit des Marktes ideell zu fundieren. Laut von Hayek kann das Ergebnis eines marktgesteuerten Prozesses nicht ungerecht sein, weil niemand dafür verantwortlich ist (der Markt werde ja von der „unsichtbaren Hand“ gesteuert, nicht von Personen). Man könne keine Ansprüche an irgendjemanden geltend machen, da der Preis (für Güter, aber auch für Arbeit) am Markt verhandelt und nicht von jemandem bestimmt wird.
Ignoriert wird dabei, dass das Geschehen auf dem Markt selbstverständlich von Menschen bestimmt wird – von denen, die die Regeln des Marktes machen, und von den Ausgangsbedingungen, unter denen der_die Einzelne auf diesem Markt agiert. Nicht zufällig gehen Neoliberale meist der Frage aus dem Weg (und ignorieren die politischen Implikationen), ob denn die Ausgangsbedingungen auf dem freien Markt für alle gleich sind bzw. wie eine solche Gleichheit herzustellen sei. Ebenso wenig fragen sie, wen die Regeln des freien Marktes begünstigen und wen sie benachteiligen. Im Ergebnis perpetuiert der sogenannte freie, neoliberal (de)regulierte Markt im Allgemeinen bestehende soziale Ungleichheiten, wie in den oben genannten Beispielen. Wenn dies aber die Auswirkung des freien Marktes ist, dann ist es, laut neoliberaler Doktrin, sozial gerecht.
Anhand des extremen Umgangs neoliberaler Ideologen mit diesen Fragen sind schon einige wesentliche Aspekte sozialer Gerechtigkeit angesprochen. Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit beschäftigt sich mit der Verteilung der Güter in einer Gesellschaft sowie mit der Entscheidungsfindung, wie diese Verteilung geregelt wird. Beides sind existenzielle Konfliktthemen einer jeden Gesellschaft. Wesentliche Positionen lassen sich mit recht kurzen Maximen beschreiben: Der feudalistische Gedanke „Jedem_r nach seiner_ihrer Geburt“ ist im Prinzip aus dem gesellschaftlichen Themenkanon aussortiert, kehrt aber durch die Hintertür zurück, wenn durch die Vererbung von Eigentum und die Weitergabe von sozialem Kapital die soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft immer geringer wird.
Der gegenwärtige Diskurs wird vor allem durch die Auseinandersetzung zwischen der zugrunde liegenden Doktrin „Jedem_r nach seiner_ihrer Leistung“ und der Forderung „Jedem_r nach seinen_ihren Bedürfnissen“ bestimmt. Die Losung „Jedem_r das Gleiche“ ist dagegen als „Gleichmacherei“ stark diskreditiert – tatsächlich kann gefragt werden, ob ihre Umsetzung gerecht wäre, wenn Menschen doch sehr unterschiedliche Bedürfnisse und Bedarfe haben. Wo es um Grundbedürfnisse – wie den Zugang zu Wasser, Nahrung, Wohnraum und gesellschaftlicher Teilhabe – geht, sollte allerdings klar sein, dass jede_r das gleiche Recht hat, diese zu befriedigen.
Eine Art Mittelposition nimmt die Forderung „Jedem_r die gleichen Chancen“ ein: Setzt die Kinder „auf null“, ermöglicht allen die Teilhabe im Bildungssystem mit gleichen Ausgangsbedingungen – dann kann in diesem Modell wirklich davon ausgehen werden, dass Erfolge aufgrund der eigenen Leistung errungen wurden. Allerdings ist bei stark divergierenden Ausgangsbedingungen die Umsetzung einer fairen Teilhabe kaum zu ermöglichen. Zu den Ausgangsbedingungen gehören nicht nur (aber auch!) die finanziellen Mittel der Eltern, sondern z.B. auch das soziale und familiäre Umfeld, häusliche Förderung oder Vorbilder.
Die Gesellschaft kann bzw. könnte bei genug politischem Willen die ungleichen Chancen, die Kinder durch Geburt haben, bis zu einem gewissen Grad ausgleichen – durch Fördermaßnahmen, Zugang zu Kinderbetreuung, Stipendiensysteme usw. Wachsende soziale Ungleichheit – sowohl materiell als auch in Form einer Ungleichverteilung von sozialem und kulturellem Kapital – macht dieses Ziel jedoch immer aufwendiger und letztlich unrealistisch. Die Eindämmung sozialer Ungleichheit ist insofern notwendige Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit im Sinne von Chancengleichheit.
Doch selbst wenn die ungleichen Ausgangsbedingungen komplett ausgeglichen werden könnten, bliebe die Frage, wer „Leistung“ bewertet, wer festlegt, welcher Beitrag zum Gemeinwohl höher zu bewerten wäre … Und wenn die gesellschaftlichen Positionen oder der gesellschaftliche Status, die auf der Grundlage von angeblich gleichen Chancen im Wettbewerb errungen werden können, extrem ungleich verteilt sind, wird das Ergebnis dieser Lotterie schwerlich als gerecht empfunden werden.
Zunehmende soziale Ungleichheit wird in der Bundesrepublik weithin als wachsendes Gerechtigkeitsproblem empfunden. Auch Bürger_innen, denen das Leistungsprinzip gerecht erscheint, tun sich schwer damit, das Auseinanderklaffen z.B. von Managergehältern und Löhnen oft um das 100-Fache, wenn nicht das 1000-Fache als Ausdruck unterschiedlicher „Leistung“ zu sehen. Die Hilf- und Willenlosigkeit von Politik, hier gegenzusteuern, führt zu Frustration, Ohnmachtsgefühlen und „Politikverdrossenheit“. Handlungsfähigkeit von Politik gegenüber dem Markt zurückzugewinnen, ist damit ein notwendiger erster Schritt zur Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit.
Die Frage nach Handlungsfähigkeit ist, ebenso wie die nach sozialer Gerechtigkeit, in Zeiten der Globalisierung unbedingt auch eine grenzüberschreitende Frage. Die übergroße und weiterhin wachsende soziale Ungleichheit im globalen Maßstab kann wohl aus keiner politischen Warte als sozial gerecht bezeichnet werden. Dies ist nicht nur eine moralische Frage. Bei immer durchlässigeren Grenzen ist soziale Kohäsion, ein friedliches und konstruktives Zusammenleben auf dem kleiner werdenden Planeten auch eine Frage der gerechten Verteilung von Gütern und Lasten über Ländergrenzen (und auch über die Grenzen der EU) hinweg. Die geteilte Verantwortung hierfür bedarf noch neuer Diskussions- und Entscheidungsforen, neuer Formen grenzüberschreitender demokratischer Prozesse.
Die Herstellung sozialer Gerechtigkeit ist notwendigerweise ein offener Prozess, der immer neu stattfinden muss – weil alte Probleme fortbestehen, weil sich neue gesellschaftliche Problemlagen und Gerechtigkeitsfragen öffnen (z.B.: Wie wird die Teilhabe an der digitalen Welt für alle gerecht geregelt?) oder weil Gerechtigkeitsvorstellungen sich verändern (siehe z.B. die Debatten um das Ehegattensplitting). Der freie Zugang zu politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen und die Möglichkeit, neue und divergierende Sichtweisen einzubringen und damit Gehör zu finden, sind damit zwei essentielle Bedingungen für die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit.
Die Tendenz zu steigender sozialer Ungleichheit ist marktförmig organisierten Gesellschaften eingeschrieben. Das Eintreten für mehr soziale Gerechtigkeit im Kapitalismus ist deshalb nicht vergeblich, aber es ist ein ständiger Kampf bergauf. Eine Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit zu entwickeln, in der diese zwar mit Sicherheit weiter umkämpft ist, aber soziale Ungerechtigkeit nicht schon im System angelegt ist, bleibt eine Aufgabe für die Entwicklung konkreter Utopie.
Über die Autorin
Gisela Neunhöffer ist seit über 10 Jahren als Gewerkschaftssekretärin für internationale und deutsche Gewerkschaften tätig, u.a. in Russland, Südafrika, Tunesien, Polen und Deutschland. Davor und nebenher beschäftigt sie sich mit der Genese des Neoliberalismus und den Auswirkungen des neoliberalen Umbaus unserer Gesellschaften auf Arbeits- und Lebensbedingungen, auf das kollektive und individuelle Denken, Fühlen und Handeln. Sie lebt und arbeitet zur Zeit in Berlin.
Aus der Praxis
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