Diversity-Konzepte in der Migrationsgesellschaft
Von Astrid Messerschmidt
Verschiedenheit zu ignorieren, führt in Bildungszusammenhängen zur Reproduktion von Ungleichheit. Aus dieser Einsicht ist die Forderung nach einer Sensibilität für Differenzen und Heterogenität entstanden. Umgekehrt begünstigt das Betonen und Hervorheben von Verschiedenheit stereotype Sichtweisen und reproduziert ausgrenzende Unterscheidungen. Mit diesen Einsichten ist eine kritische Reflexion der problematischen Wirkungen von Diversity-Ansätzen erforderlich geworden. Wenn das Anderssein mit den Kategorien Geschlecht, Herkunft, Kultur, Hautfarbe, Nationalität, Körperlichkeit, sexuelle Lebensform bereits vorausgesetzt wird, ohne zu fragen, wie bedeutend oder unbedeutend diese Zuordnungen in der jeweiligen Situation sind, werden aus Unterschieden feststehende Eigenschaften. Der Prozess des Unterscheidens und die sozialen Bedingungen, durch die Unterschiede bedeutsam gemacht werden, geraten dann leicht aus dem Blick. Migrationsbiografien und familiäre Migrationsgeschichten – auch wenn diese zwei Generationen zurück liegen – sind in den letzten Jahren zu Eigenschaften von Gruppen erklärt worden, die dadurch überhaupt erst zu Gruppen gemacht worden sind.
Der Kontext der Migrationsgesellschaft
Trotz der zwar verspäteten, aber dennoch substanziellen Änderungen im Staatsbürgerschaftsrecht, durch die in Deutschland geborene Kinder von Eingewanderten (zumindest vorläufig) Deutsche sein können, ist die „Definition Deutschlands als ethnisch homogenes Kollektiv“ tief im Selbstbild verankert (Terkessidis 2002, S. 22), weshalb Zugehörigkeiten jenseits einer deutschen „Abstammung“ immer unter dem Verdacht der Nichtzugehörigkeit stehen. In der politischen Öffentlichkeit hat in den letzten Jahren ein semantischer Wechsel von „Einwanderung“ zu „Zuwanderung“ stattgefunden. Ehe überhaupt die Selbstbeschreibung als Einwanderungsgesellschaft etabliert werden konnte, zieht der Begriff Zuwanderung eine neue Grenze. Mit ihm wird die Rede von einer Einwanderungsgesellschaft vermieden, da mit dieser ein allzu großes Maß an innerer Veränderung signalisiert würde. Demgegenüber bleibt „Zuwanderung“ etwas Äußerliches, dem ein Ankommen im Inneren der Gesellschaft nicht möglich ist. „Jemand, der zuwandert, kann auch schnell wieder abwandern, hat es nicht in die Bevölkerung hinein geschafft (…)“ (Utlu 2011, S. 448, Hervorh. im Original). Wenn es um Migration geht, taucht eine meistens unausgesprochene Frage auf: „Wer ist Wir“?, wie ein Buchtitel von Navid Kermani (2009) lautet. Solange sich diese Wir-Vorstellung nicht für die faktische innere Diversität von Gesellschaft öffnet, werden Abgrenzungen verfestigt.
Der Begriff der Migrationsgesellschaft macht auf die allgemeine Bedeutung von Migration für alle Teile der Gesellschaft aufmerksam und stößt eine Veränderung des gesellschaftlichen Selbstbildes an. Doch viele Institutionen und Professionelle im pädagogischen Bereich hängen immer noch einem Gesellschaftsbild an, das von abstammungsbezogener Zugehörigkeit und innerer Gleichförmigkeit geprägt ist. Aus der Tatsache der Migrationsgesellschaft wird dabei schnell eine „Migrantengesellschaft“, die nicht zum Wir gehört. Im Kontext von Migration muss deshalb nicht nur von Diversität, sondern zugleich von Diskriminierung gesprochen werden, die sich angesichts der Zugehörigkeitsordnungen in Deutschland im Alltagsrassismus äußert. Dies trifft insbesondere eine Generation von Post-Migrant_innen, die gar keine eigene Migrationserfahrung haben, die aber dennoch als Nichtzugehörige betrachtet werden, weil sie nicht in die dominante Zugehörigkeitsordnung passen, in der Deutsche weder Schwarze, noch Sinti, noch Muslime, noch Juden sein können, ohne gefragt zu werden, woher sie „eigentlich“ kommen. Das gesellschaftliche Selbstbild entspricht also noch einer Prä-Migrationsgesellschaft, während längst eine post-migrantische Generation entstanden ist (vgl. Yıldız 2010). Die interkulturelle Pädagogik hat mit dazu beigetragen, dass Kultur zu einem bevorzugten Fremdmacher geworden ist. Das ist vielfach kritisiert worden, bestimmt aber nach wie vor viele Angebote in der Praxis. Nationale Herkunft wird dabei zu einer eindeutigen kulturellen Eigenschaft. Die innere Diversität moderner Nationen bleibt ausgeblendet. Eine zeitgemäße Bildungsarbeit reflektiert die Tatsache der Migrationsgesellschaft als deutsche, europäische und globale Normalität und bezieht sich nicht auf Unterschiede der Abstammung, sondern auf verschiedene Lebenslagen und soziale Verhältnisse, die durch politische Entscheidungen zustande gekommen sind.
Plädoyer für ein kritisches Diversity-Konzept
Diversität und Heterogenität sind zu Superthemen im pädagogischen Bereich geworden, weil der Wunsch nach Ähnlichkeit immer noch dominiert. Mit der Thematisierung von Verschiedenheit geht zugleich ihre Abwehr einher. Heterogene Gruppen gelten als problematisch. Verschiedenheit wird als Abweichung von einer meistens unausgesprochenen Norm wahrgenommen und entsprechend problematisiert. Zugrunde liegt dem ein unhinterfragtes „Diversitätswissen“ (Eggers 2010), das der Selbstbestätigung derer dient, die in dieser Ordnung als „normal“ angesehen werden.
Andererseits steht der Diversity-Begriff programmatisch dafür, dass die Vielfalt von Identitäten, Unterschieden und Zugehörigkeiten grundlegend für die gesellschaftliche Wirklichkeit ist. Vielfalt bildet keinen Sonderfall, sondern gehört zur Normalität gegenwärtiger Gesellschaften. Doch wenn gesellschaftliche Vielfalt betont wird, führt das leicht dazu, Konflikte und ungleiche Lebensbedingungen zu verdrängen.
Zwei Varianten der Besetzung von Diversity sind grundsätzlich zu unterscheiden: In der einen Variante wird Diversity als etwas Positives dargestellt, als ein Wert an sich, der zu begrüßen ist. Vielfalt wird dabei häufig zu einem Slogan für eine unproblematische Selbstbeschreibung. Eine kritische Besetzung des Konzepts verbindet mit Diversity eine Antidiskriminierungsstrategie und problematisiert Hierarchien, gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse und gruppenbezogene Ausgrenzungen (vgl. Mecheril 2009). Die Hervorhebung von Vielfalt wird hier zu einem Anspruch auf strukturelle Veränderungen und zum Impuls, die eigene Wahrnehmung von Verschiedenheit selbstkritisch zu überprüfen. Dabei geht es insbesondere darum, dass im Umgang mit Differenzen Machtverhältnisse eine Rolle spielen. Wer kann welche Positionen besetzen, wer kann wo sprechen und wer wird gehört? Wer bleibt außen vor, schweigt und wird nicht gehört? Ein reflexiver Diversity-Ansatz sollte zum Thema machen, wo Diversität dazu benutzt wird, Ausgrenzungen zu rechtfertigen. Diversity ist kein Königsweg, sondern eine politische und soziale Praxis, die kritisch zu reflektieren und zu analysieren ist. Eine reflexive und (selbst‑)kritische Diversity-Praxis entwickelt ein Interesse an Uneindeutigkeiten, an allem, was sich den gängigen Identitätsmustern entzieht und nicht hineinpasst in dominante Ordnungen der Unterscheidung von Eigenem und Anderem, von Normalem und Abweichendem.
Literatur
Eggers, Maureen Maisha (2010): Anerkennung und Illegitimierung. Diversität als marktförmige Regulierung von Differenzmarkierungen, in: Anne Broden/Paul Mecheril (Hg.): Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zur Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft, Bielefeld, S. 59-85.
Kermani, Navid (2009): Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime, München.
Mecheril, Paul (2009): Diversity Mainstreaming, in: Dirk Lange/Ayca Polat (Hg.): Unsere Wirklichkeit ist anders. Migration und Alltag, Bonn, S. 202-210.
Terkessidis, Mark (2002): Migration und politische Bildung in Deutschland. Über die vernachlässigte Frage der Staatsbürgerschaft, in: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, 22. Jg., H. 85, S. 17-29.
Utlu, Deniz (2011): Migrationshintergrund. Ein metaphernkritischer Kommentar, in: Susan Arndt/Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster, S. 445-448.
Yıldız, Erol (2010): Die Öffnung der Orte zur Welt und postmigrantische Lebensentwürfe, online abrufbar beim Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik/Forschungsbereiche/Migration, Integration und Diversität
Über die Autorin
Astrid Messerschmidt hat die Professur für interkulturelle Bildung/lebenslange Bildung an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe inne.
Aus der Praxis
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