„Gender“
Von Renate Bitzan
Das englische Wort „gender“ bedeutet „Geschlecht“. Es gibt im Englischen noch ein anderes Wort für Geschlecht, nämlich „sex“. Was den Unterschied zwischen beiden Wörtern ausmacht, darauf wird im Verlauf des Beitrages eingegangen.
Bedeutung von „gender“ auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene
Im Alltagsleben gehen die meisten Menschen ganz selbstverständlich von der „natürlichen“ Existenz und der klaren Unterscheidbarkeit von genau zwei Geschlechtern – Männern und Frauen – aus. Menschen werden unwillkürlich – und auf den ersten Blick – diesen „Schubladen“ zugeordnet. Wie diese Zuordnung begründet ist und was sich damit an Einschätzungen, Erwartungen usw. verbindet, bleibt jedoch zumeist unbewusst. Dabei ist die jeweilige Zuordnung als Frau oder Mann sehr folgenreich: Nicht nur für das Selbstverständnis einer Person (ihre Gewohnheiten, Sprechweisen, Kleidung und Frisuren usw.) und den Verlauf zwischenmenschlicher Begegnungen. Auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Chancen und Risiken, die sich für die beiden Geschlechter teilweise recht unterschiedlich darstellen, ist die Zuordnung bedeutsam. Die Kategorie Geschlecht ist somit – mal offensichtlicher, mal verdeckter – auf der persönlichen wie auf der gesellschaftlichen und politischen (also der strukturellen) Ebene relevant.
Strukturelle Hierarchien
Historisch gesehen ist es noch nicht lange her, dass Frauen deutlich weniger Rechte hatten als Männer: z.B. beim Zugang zu höherer Bildung, beim Wahlrecht und bei der Entscheidungsmacht über familiäre Angelegenheiten sowie die eigene Erwerbstätigkeit. Die Frauenbewegungen der verschiedenen historischen Epochen haben für die Gleichberechtigung gekämpft und so dafür gesorgt, dass inzwischen hierzulande formal gleiche Rechte für Frauen und Männer in der Gesetzgebung verankert sind.
Gleichwohl sind in der gesellschaftlichen Praxis noch immer einige strukturelle Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis zu sehen. Z.B. sind in Führungspositionen deutlich mehr Männer als Frauen anzutreffen („vertikale Segregation“), und statistisch gesehen verdienen Frauen weniger Geld als Männer, selbst wenn sie in gleichen Positionen arbeiten („gender pay gap“).
Auch Gewalt in privaten Partnerschaften, die mehrheitlich von Männern gegen Frauen ausgeübt wird, kommt noch immer so häufig vor, dass die einzelnen Fälle nicht als individuelle Probleme betrachtet werden können, sondern ein strukturelles Dominanzverhältnis abbilden.
Unterschiedliche Charakterzuschreibungen und die Unterscheidung zwischen „sex“ und „gender“
Sehr lange wurde Geschlecht als biologische und zugleich charakterliche Eigenschaft verstanden, wobei beides als unmittelbar miteinander zusammenhängend galt. Dabei wurden biologische Phänomene wie Zeugung und Empfängnis, Schwangerschaft usw. einfach „verlängert“ zu vermeintlich natürlichen allgemeinen Geschlechtereigenschaften im sozialen Verhalten (dominant-erobernd und rational als männliche Merkmale gegenüber passiv, fürsorglich und emotional als weiblichen Merkmalen).
Bis heute zeigen sich die Folgen dieser Auffassung z.B. in der unterschiedlichen Verteilung von Frauen und Männern auf bestimmte Berufsfelder: In sozialen, pädagogischen und pflegerischen Bereichen arbeiten deutlich mehr Frauen, in militärischen und technischen Bereichen deutlich mehr Männer („horizontale Segregation“). Auch im Privatleben und in den Familien halten sich noch häufig typische Rollenaufteilungen: Meist kümmern sich vorrangig die Frauen um Haushalt, Kinder, Pflege von Angehörigen und soziale Kontakte – auch wenn sie erwerbstätig sind – und Männer stecken mehr Energie in den Gelderwerb und die Karriere sowie in handwerkliche Aufgaben. Kinder werden häufig nicht nur durch solche Vorbilder, sondern z.B. auch durch entsprechendes Spielzeug bereits auf diese Rollen vorbereitet.
Die Unterscheidung zwischen der biologischen und der gesellschaftlich-sozial-kulturellen Ebene war in der Geschlechterforschung der 1970er und 80er Jahre zunächst ein wichtiger Fortschritt. Mit den aus dem Englischen übernommenen Begriffen „sex“ und „gender“ sollte das „biologische Geschlecht“ (sex) – das als natürlich gegeben aufgefasst wurde – von der „sozialisierten Geschlechtsrolle“ („gender“) unterschieden werden. „Gender“ galt (im Unterschied zu „sex“) als ausschließlich gesellschaftlich geprägt und somit auch als veränderbar. Dies machte es möglich, immer mehr gesellschaftliche Bereiche und persönliche Interessen für beide Geschlechter zugänglich zu machen.
Heute gibt es wieder Stimmen, die behaupten, das unterschiedliche Rollenverhalten liege in der Biologie begründet (in den Genen, in der Hirnstruktur etc.), und Ratgeberbücher verbreiten diese Behauptungen. Die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung jedoch geht mehrheitlich davon aus, dass „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ Ergebnisse „sozialer Konstruktionen“ (also gesellschaftlicher und kultureller Traditionen und Handlungen) sind.
„Doing gender“ – wie Geschlecht „gemacht“ wird
Mit dem Begriff „doing gender“ sind die vielfältigen Gesten, Mimiken, Sprech- und Handlungsweisen zwischen Menschen gemeint, die – zumeist unbewusst – die Information transportieren, welchem Geschlecht die jeweiligen Personen sich selbst zurechnen bzw. zugerechnet werden. Dieses Konzept betont also, dass Geschlecht weniger „an sich ist“, sondern vielmehr in Interaktionen zur Geltung kommt. Zugleich zeigt das „doing“ an, dass es sich um ein „Tun“, eine Art „Produktion“ handelt, die jedoch nicht nur einmal passiert und dann erhalten bleibt, sondern fortwährend und immer wieder neu in der zwischenmenschlichen Kommunikation hergestellt wird.
Zweigeschlechtlichkeit?
Die dualistische Einteilung der Menschen in (nur) zwei Geschlechter und die Zugehörigkeit eines Menschen zu nur einem Geschlecht vom embryonalen Stadium bis zum Tod kommt uns „natürlich“ vor. Doch wenn wir uns die realen Menschen anschauen und uns einmal die Sachen wegdenken, die sie tun, um als eindeutig männlich oder eindeutig weiblich angesehen zu werden (also nicht nur Kleidung, Frisur und Schminke, sondern auch z.B. die Körperbearbeitungen wie Enthaarung, Bodybuilding oder Schönheits-OPs), dann ist es eigentlich treffender, sich nicht zwei ganz deutlich getrennte „Sorten“ von Menschen vorzustellen, sondern eine Skala oder ein „Kontinuum“. Jede einzelne Person hat vermutlich einige eher „weibliche“ und einige eher „männliche“ Züge – Barbie und Ken in Reinform stellen eher die Randpole dar.
Die zur Natur erklärte Zweigeschlechtlichkeit kann auch als menschengemachte Zwangsordnung betrachtet werden, aus der alle Menschen herausfallen, die nicht in diese Ordnung passen oder passen wollen. So gibt es Menschen, die körperlich „in-between“ sind (Intersexuelle), Menschen, die in verschiedene Geschlechterrollen schlüpfen oder sich bewusst uneindeutig darstellen (Transgender), und Menschen, bei denen das empfundene und das körperliche Geschlecht nicht übereinstimmen (Transsexuelle bzw. Transidente).
Ist also – weitergedacht – nicht nur die veränderbare, soziale Ebene von „gender“, sondern auch die körperliche Ebene von „sex“ gar nicht so eindeutig und stabil wie lange angenommen? Es ist zwar unbestritten, dass die meisten Menschen eindeutige Genitalien haben. Aber warum wird ausgerechnet an diesem körperlichen Kriterium die so folgenreiche Einteilung in zwei Menschengruppen vorgenommen? Und handelt es sich bei dieser Regelung nicht auch wieder um eine kulturell-gesellschaftliche, eine „sozial vereinbarte“ Handlungsweise?
Insofern wäre es keine Frage der Natur, sondern vielmehr eine Frage der gesellschaftlich-kulturellen Auffassungen und Regeln, die sowohl die Anzahl der Geschlechter und ihr Erkennungskriterium als auch ihre (Nicht‑)Durchlässigkeit bestimmen. Das zeigt sich auch darin, dass es einige Kulturen gibt, in denen es mehr als zwei Geschlechter gibt oder in denen Menschen im Lebensverlauf verschiedene Geschlechterpositionen einnehmen können.
Sexuelle Vielfalt
Eng mit der Zweigeschlechter-Ordnung verknüpft ist auch die Vorstellung, dass es natürlich und normal sei, dass sich das sexuelle Begehren eines Menschen auf Angehörige des je anderen Geschlechts richtet, also dass es normal ist, heterosexuell zu sein. (Beides zusammen – die Regel, dass es nur zwei Geschlechter geben könne, und die Regel, dass Heterosexualität normal sei – wird auch „Heteronormativität“ genannt.)
Dabei gibt es auch sehr viele Menschen, die Angehörige des je gleichen Geschlechts sexuell anziehend finden (Homosexualität; Lesben und Schwule). Bei manchen Menschen ändert sich das auch in verschiedenen Phasen ihres Lebens oder sie finden sowohl Männer als auch Frauen attraktiv (Bisexualität). Wieder andere interessieren sich gar nicht für sexuelle Kontakte (Asexualität) usw.
Inzwischen ist die Vielfalt der sexuellen Orientierungen gesellschaftlich akzeptierter und immer mehr Menschen trauen sich, sich zu „outen“. Dennoch gibt es nach wie vor auch Vorbehalte bis hin zu offener Feindseligkeit in Teilen der Gesellschaft.
Intersektionalität: die Verschränkung von Geschlecht mit anderen Kategorien
Jede Person wird üblicherweise nicht nur hinsichtlich ihres Geschlechts „einsortiert“, sondern zugleich auch hinsichtlich anderer Aspekte wie Alter, ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit, Religion, Hautfarbe, Aufenthaltsstatus, Gesundheit/Beeinträchtigung, sozialer Status usw. Viele dieser Aspekte bezeichnen nicht einfach nur Unterschiedlichkeiten („Diversität“). Vielmehr sind sie häufig mit Wertungen, mit Über- und Unterordnungen, mit Dominanz und Unterwerfung, mit unterschiedlichen Chancen und Risiken verbunden. Für die Bezeichnung dieser hierarchischen Wertungsverhältnisse gibt es je spezielle Begriffe wie etwa Rassismus, Sexismus und Klassismus.
Dass diese Verhältnisse nicht einfach nebeneinanderstehen, sondern miteinander verwoben sind (und wie sie verwoben sind), wird seit einigen Jahren unter dem Begriff „Intersektionalität“ diskutiert. Die Positioniertheit einer Person ergibt sich aus einer Gemengelage mehrerer sich verschränkender Kategorien. Insofern ist es keine Seltenheit, dass Menschen in mancher Hinsicht privilegiert und zugleich in anderer Hinsicht benachteiligt sind (z.B. als Wohlhabender und Staatsbürger privilegiert und zugleich als Schwarzer und Schwuler benachteiligt). Außerdem kann die Verknüpfung zwischen verschiedenen Kategorien sich wechselseitig so auswirken, dass ganz verschiedene Probleme daraus entstehen. Z.B. kann es sein, dass eine nicht-behinderte junge Frau darunter leidet, dass ihre Schwiegereltern ihr ständig mit der Frage Druck machen, wann sie denn nun endlich ihr erstes Kind bekomme, während eine behinderte junge Frau, die ein Kind bekommen möchte, darunter leidet, dass Menschen in ihrem Umfeld solche Pläne befremdlich finden, ihr keine Mutterschaft zutrauen und ihr davon abraten.
Abschaffung der Kategorie Geschlecht?
Die Kategorie Geschlecht ist also „an sich“ ziemlich einschränkend (weil sie uns nötigt, uns als Mann oder Frau einzuordnen), und sie ist neben oder mit anderen Kategorien eine, die gesellschaftliche Ungleichheiten befördert, wie es scheint. Sollten wir sie dann nicht einfach „abschaffen“? – Ja und nein …
Ja, als langfristige Perspektive und schon heute in kleineren oder größeren Schritten heraus aus den Zumutungen einschränkender Rollenzuschreibungen: Jungs, die auch mal Röcke tragen; Mädchen, die Fußball spielen; Frauen als Technikerinnen; Männer als Altenpfleger, Regenbogenfamilien und Intersexuelle, die so bleiben wollen wie sie sind … All dies gibt es schon längst, zumindest punktuell. Und das ist gut so.
Nein, da zum jetzigen Zeitpunkt die Kategorien „Geschlecht“, „Frauen“ und „Männer“ noch nicht überflüssig sind. Denn zur kritischen Analyse heutiger gesellschaftlicher Verhältnisse (z.B. bei der Lohnungleichheit, s.o.) sind sie nach wie vor unverzichtbar, um Ungerechtigkeiten zu erkennen.
Über die Autorin
Renate Bitzan hat Politikwissenschaft und Soziologie studiert und zum Thema Frauen & Rechtsextremismus promoviert. Nach Forschungs- und Lehrtätigkeiten an den Universitäten Göttingen und Frankfurt a.M. ist sie seit 2010 Professorin für das Lehrgebiet „Gender & Diversity“ an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm. Dort leitet sie zusammen mit einer Kollegin auch das Kompetenzzentrum Gender & Diversity (KomGeDi).
Aus der Praxis
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