Ungleichheitsideologien

Ungleichheitsideologien 

Von Albert Scherr

Jeder Blick auf die soziale Wirklichkeit zeigt: Gesellschaften bringen vielfältige Ungleichheiten vor. Einkommen und Vermögen sind höchst ungleich verteilt. Schul-, Berufs- und Hochschulabschlüsse haben Folgen nicht nur für die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch für das soziale Ansehen. Die jeweilige Staatsangehörigkeit eröffnet oder verschließt Möglichkeiten des Reisen sowie der Ein- und Auswanderung. Asylsuchende und Geduldete haben nur begrenzten Zugang zu ärztlicher Versorgung und sind von Abschiebungen bedroht. Wer sichtbar einer Minderheit angehört, ist offener und verdeckter Diskriminierung ausgesetzt. Und so weiter. Ungleichheiten sind allgegenwärtig. Es sind nicht alle gleich, aber trotzdem gleich an Würde, an Rechten und an Lebensmöglichkeiten. Denn die soziale Wirklichkeit besteht aus eine Fülle von Ungleichheiten in Bezug auf Macht und Ohnmacht, Armut und Reichtum, Freiheit und Unfreiheit, Wertschätzung und Verachtung.

In bürgerlich-demokratischen Gesellschaften gelten solche Ungleichheiten nicht als gottgewollt oder naturgemäß. Seit den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts hat sich vielmehr die Idee durchgesetzt, dass die Gesellschaft das Zusammenleben gleicher und freier Bürger_innen ermöglichen soll. Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind als Leitwerte anerkannt. Dies führt zu einem Problem: Wie können fortbestehende Ungleichheiten gerechtfertigt werden? Wie kann Akzeptanz für soziale Verhältnisse erzeugt werden, die jenen Leitwerten widersprechen?

Für dieses Problem gibt es unterschiedliche „Lösungen“: Man kann diejenigen durch Verbote und Bestrafungen mundtot machen, die bestehende Ungleichheiten als ungerecht anklagen. Oder: Das wirkliche Ausmaß von Ungleichheiten und ihre Auswirkungen können verharmlost werden. Eine weitere „Lösung“ stellen Ungleichheitsideologien dar: An die Stelle der Idee der gleichen und freien Individuen wird hier die Vorstellung gesetzt, dass die Gesellschaft aus ungleichen und ungleichwertigen Gruppen besteht. Auf dieser Grundlage wird dann behauptet, dass soziale Ungleichheiten eine Folge der ungleichen Fähigkeiten der Angehörigen der jeweiligen Gruppen sind. Zur Verdeutlichung: Frauen wurde in der patriarchalischen Ungleichheitsideologie weniger Verstand als Männern, aber mehr Gefühl zugeschrieben. Auf dieser Grundlage wurde es behauptet, dass es angemessen sei, wenn dass Männer mehr politische Macht haben als Frauen. Denn in der Politik sei es für alle besser, wenn die männliche Vernunft regiere und nicht die weiblichen Gefühle.

Die rassistische Ungleichheitsideologie ist ganz ähnlich konstruiert: Der ältere Rassismus glaubte, dass es die Pflicht des weißen Mannes sei, die schwarzen Völker zu deren eigenem Wohl zu regieren. Denn diese verfügten in den Augen des Rassisten nicht über die Fähigkeiten, sich selbst zu regieren.

Das Grundmuster aller Ungleichheitsideologien besteht aus drei Konstruktionselementen:

1. Gesellschaft besteht nicht aus gleichwertigen und gleich würdigen Individuen, sondern ungleichen und ungleichwertigen Gruppen.

2. In der sozialen Ordnung soll den Gruppen der Platz zugewiesen werden, der ihren ungleichen Fähigkeiten entspricht.

3. Unterschiede zwischen diesen Gruppen können und sollen nicht aufgelöst werden, denn Vermischung führt zu Verunreinigung.

Aus diesen drei Grundelementen wurden und werden zahlreiche Varianten von Ungleichheitsideologien konstruiert. Diese zielen immer auf eine Erklärung und Rechtfertigung von Ungleichheiten und Abgrenzungen als Folge von angeblich unüberwindbaren Unterschieden und Ungleichheiten. Und sie entwerfen Wunschbilder einer sozialen Ordnung, in dem jeder_m ein klar festgelegter Ort zugewiesen ist, den die Ideologie definiert.

Für die Bildungsarbeit stellt sich nicht zuletzt die Frage, warum Ungleichheitsideologien so schwer aufzubrechen sind. Obwohl mensch ja wissen könnte, dass die Annahmen über die Eigenschaften vermeintlich höherwertiger und minderwertiger Gruppen einfach nur falsch sind. Zur Erklärung sind zwei Zusammenhänge zentral:

·       Der soziologische Zusammenhang: Tatsächliche Benachteiligungen führen zu Ergebnissen, die der Ideologie scheinbare Plausibilität verleihen. Zum Beispiel: Wird Minderheiten der Zugang zu angemessener Bildung verweigert, dann können sie als unbegabt oder desinteressiert dargestellt werden. Arbeitslose werden als Menschen sichtbar, die keiner geregelten Arbeit nachgehen. Dann kann gezeigt werden, dass ihnen der Wille und die Disziplin dazu fehlt. Denn sie gehen ja wirklich nicht pünktlich und regelmäßig zur Arbeit. Ungleichheitsideologien stellen Ergebnisse sozialer Zustände als Eigenschaften derjenigen dar, die von den Folgen sozialer Ungleichheit betroffen sind. Sie machen die Folgen zu den Ursachen und können diese „Ursachen“ mehr oder weniger überzeugend sichtbar machen.

·       Der sozialpsychologische Zusammenhang: Wer glaubt, einer besseren Gruppe anzugehören als andere, kann auf diese herabsehen und dadurch sein Selbstwertgefühl steigern. Es gibt wenig einfachere Möglichkeiten, den eigenen Selbstwert zu steigern, als sich mit einer überlegenen Gruppe zu identifizieren. Nationalismus und Rassismus sind deshalb auch oftmals der Stolz derjenigen, die ansonsten wenig haben, auf das sie ihre Selbstachtung gründen können. Hinzu kommt: Diejenigen, die sich erfolgreich in die soziale Ordnung einpassen, sich den sozialen Normen und Zwängen unterwerfen, können zwar mehr oder wenig stolz sein, zum Beispiel auf ihre Bildung, ihr Einkommen, ihren Beruf. Aber die Zwänge, die sie sich selbst antun, führen zu Neid auf diejenigen, die ihr Leben in ihren Augen bloß genießen, ohne es sich „verdient“ zu haben, und diejenigen ausnutzen, die leistungsbereit und diszipliniert sind. Ungleichheitsideologien stehen also in einem Zusammenhang mit starken Gefühlen wie Selbstachtung, Stolz, innerer Unzufriedenheit und Neid.

Bildungsarbeit steht deshalb vor einer dreifachen Herausforderung: Sie muss nicht nur aufklären, d.h. aufzeigen, was an den Annahmen über die angeblich natürlichen oder kulturellen Eigenschaften von Gruppen schlicht falsch ist. Sondern sie muss auch die sozialen Zusammenhänge durchschaubar machen, die es ermöglichen, die Welt so darzustellen, als wären die Ungleichheitsideologien zutreffend. Zudem muss die emotionale Kraft der Ideologie gebrochen, müssen andere Quellen der Selbstachtung und andere Verarbeitungsmöglichkeiten von Unzufriedenheit zugänglich gemacht werden.

Hinzuweisen ist auf einen weiteren Punkt: Bildungsarbeit sollte sich der Gefahr bewusst sein, ähnliche ideologische Muster zu verwenden wie diejenigen, gegen die sie antritt. Wenn z. B. „die Nazis“ oder „Rassisten“ als intellektuell dumpf und moralisch minderwertig betrachtet werden, bewegt mensch sich in durchaus gefährlicher Nähe zu den Denkmodellen einer Ungleichheitsideologie. Zudem bewegt mensch sich dann in den Denkmodellen von politischer Gegnerschaft und politischem Kampf. Diese haben gelegentlich ihre Berechtigung. Für die Bildungsarbeit sind sie grundsätzlich nicht geeignet.

Lesetipp zur Vertiefung:

Albert Scherr: Diskriminierung. Freiburg: Centaurus (auch als App erhältlich)

Über den Autor

Prof. Dr. habil. Albert Scherr, Direktor des Instituts für Soziologie der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Zivilgesellschaftlich engagiert im Komitee für Grundrechte und Demokratie und im Freiburger Forum gegen Ausgrenzung. Vetrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung und der Friedrich-Ebert Stiftung. 

Aus der Praxis

Hintergrundinformation und Methoden zum Themenbereich Migration & Rassismus finden Sie im gleichnamigen Modul dieser Webseite.

Berichte aus der Praxis finden Sie in den Methodenübersichten zu Antisemitismus, Homophobie und Rechtsextremismus.