Alle können alles werden, wenn sie sich nur genug anstrengen?
Von Koray Yılmaz-Günay
Ethnisch-kulturelle Hintergründe, die Menschen oder Gruppen zugeschrieben werden, haben in medialen, politischen und gesellschaftlichen Debatten in der Bundesrepublik immens an Bedeutung gewonnen. Die vielen Debatten um Kopfbedeckungen, Moscheebauten, das Gelingen oder Scheitern von „Multikulti“, über den vermeintlichen Unwillen oder die Unfähigkeit von Migrant_innen zur „Integration“ oder die Bedeutung von Bildung für soziales Fortkommen finden nicht nur in der Abstraktion von „Diskursen“ statt. Gerade auf betrieblicher Ebene, im Verwaltungshandeln und im Kontakt in der Nachbarschaft oder im Stadtraum sind solche Diskurse für alle Menschen in unserer Gesellschaft unmittelbarer Alltag – auch dort, wo gesellschaftliche „Vielfalt“ gar nicht vorkommt und tatsächliche Parallelgesellschaften von weißen, christlich sozialisierten, heterosexuellen Menschen tonangebend sind.
Dabei gibt es weder „die Migrant_innen“/„die Deutschen“ noch „die Frauen“/„die Männer“. In ihrer Gleichzeitigkeit und ihren Überlappungen beeinflussen sich Klassenzugehörigkeit, Geschlecht, Herkunft und andere statisch gedachte Identitäten immer und an jedem Ort. Eine Emanzipationsperspektive für eine dieser Gruppen – egal welche – kann ohne eine intersektionale, also die Überschneidungen und Gleichzeitigkeiten berücksichtigende Dimension nicht zielführend sein. Herkömmliche Diversity-Ansätze, die „Vielfalt“ als – betriebswirtschaftlich gedachte – „Bereicherung“ vermitteln, fokussieren auf einzelne Merkmale und wollen eine Umwertung vornehmen. Das „Vielfaltsmanagement“ geht weiterhin von Minderheiten aus – nur sollen diese nicht mehr aufgrund bestimmter Eigenschaften diskriminiert, sondern vielmehr im Sinne einer Produktivitätssteigerung nutzbar gemacht werden. Eine in der Bundesrepublik zentrale „Diversity“-Kategorie ist dabei das Merkmal „ethnische Herkunft“.
1. Die Schwierigkeiten des „Deutschseins“
Weder im Rahmen der Geschichtspolitik noch im Alltag der meisten Menschen hat je eine umfassende Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus und seiner europäischen Kontexte stattgefunden. Wenn wir heute noch oft hören: „Für mich hat unsere Schulklasse, unser Lehrkörper oder die Nachbarschaft keine Hautfarbe“, wird darunter eine besondere Offenheit verstanden, die vermeintlich alle Gemeinten als Gleichwertige betrachtet. Dass die Wahrnehmung von Schwarzen, Asiat_innen, Lateinamerikaner_innen oder des „Orients“ auf jahrhundertealten kolonialen Bildern beruht, die zwar geschichtlich geworden sind, aber immer auch eine Gegenwart besitzen, wird dabei geflissentlich ausgeblendet. Straßennamen, die Kolonialverbrecher ehren, Museen und Universitätsinstitute, die „Ethnien“ und „Kulturen“ ausstellen und erforschen, Kriege wie der in Afghanistan, wo „wir“ nicht nur „Brunnen bauen“, sondern auch „Schulen, in denen Mädchen Bildung bekommen“, gehören – wie selbstverständlich – zum deutschen Alltag. Wenn etwa von der „Entdeckung“ des amerikanischen Kontinents gesprochen wird, stellt sich selten die Frage, aus wessen Perspektive ein großer Teil der Erde denn vorher „unentdeckt“ war. Die eurozentrische Perspektive, die solchen Begriffen unmittelbar innewohnt, wird selten explizit gemacht – und zwar, weil sie als selbstverständlich vorausgesetzt wird.
Wenig hilfreich ist, dass seit der Einführung eines Staatsangehörigkeitsgesetzes kurz vor dem Ersten Weltkrieg bis heute ungebrochen „Deutschsein“ nicht nur als Zugehörigkeit zum deutschen Staat aufgefasst wird. Sowohl die „deutschen“ Bevölkerungsgruppen in Ost- und Südosteuropa als auch die in Russland und Zentralasien sind mit dem Status der „deutschen Volkszugehörigkeit“ als „Aussiedler_innen“ lange Zeit willkommen geheißen worden wie auch die Bürger_innen der DDR. Während also Generationen von „Migrant_innen“, die in der Bundesrepublik geboren wurden, die Staatsangehörigkeit und die gesellschaftliche und politische Teilhabe vorenthalten wurde, sind andere aufgrund eines ethnischen „Volks“-Verständnisses (Blutsrecht) auch ohne Verbindung zur BRD als „Deutsche“ anerkannt worden.
Der Begriff Rassismus hat erst seit den 1980er Jahren und auch nur sehr langsam einen Platz in der deutschen Debatte gefunden. Die seit dem Beginn des neuen Jahrtausends allmählich stattfindende Anerkennung der Einwanderungsrealität wird in den Debatten nach wie vor in Abwägung zu „Leitkultur“-Debatten und über Ersatzbegriffe (wie eben „Vielfalt“) geführt. So wie Rassismus nur bei „Rechtsextremen“ vorkommen soll, sollen die Ausgeschlossenen schuld an ihrem Ausschluss sein: „Sprechen Sie mit Ihrem Kind zu Hause Deutsch!“, heißt es dann, statt: „Wir müssen das Bildungssystem reformieren.“
2. Alles eine Frage der Zugehörigkeit?
Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt, im Gesundheitswesen, im Freizeitbereich, bei der Repräsentation auf den höheren Hierarchieebenen von Parteien und Gewerkschaften, in den Medien, in Betrieben, im Lehrkörper von Universitäten, in Verwaltungen und Gerichten oder vielen, vielen anderen zentralen Bereichen unserer Gesellschaft werden seit bald 20 Jahren mit Konzepten der „interkulturellen Öffnung“ angegangen. Über Fortbildungen sollen „Aufklärung“ und „Sensibilisierung“ bewerkstelligt werden, in wenigen Bundesländern, etwa in Berlin, wird über eine sogenannte Partizipationsgesetzgebung, die im Wesentlichen nicht über eine Antidiskriminierungsgesetzgebung hinausgeht, auch eine veränderte Einstellungspolitik vorgeschrieben, das heißt, im Rahmen der „interkulturellen Öffnung“ der Verwaltung und von Landesbetrieben sollen verstärkt auch „Menschen mit Migrationshintergrund“ eingestellt werden.
In ihrer Logik folgen solche Instrumente einer Identitätspolitik, die die Menschheit in „Kultur“-Blöcke einteilt. Wie auch im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das „Merkmale“ definiert, werden Gruppen konstruiert – bzw. in ihrer gesellschaftlichen Konstruktion hingenommen –, die bestimmte Eigenschaften „haben“: „Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“, sagt Artikel 1 des AGG (Hervorh. d. Verf.). Menschen sollen lernen, in ihrem Umgang miteinander solche „Gründe“ nicht mehr zum Anlass der Diskriminierung zu nehmen.
Dabei wäre mit gutem Grund zu behaupten, dass Frauen nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe „Frauen“ für dieselbe Arbeit schlechter bezahlt werden, wie ja auch die Bundespolizei vor Personenkontrollen in der Deutschen Bahn nicht nach der Staatsangehörigkeit von Schwarzen fragt, sondern ganz offenbar aufgrund der Hautfarbe entscheidet, die die Beamt_innen wahrnehmen („racial profiling“). Wenn Männer an der Disko-Tür oder im Fitness-Studio abgewiesen werden, weil sie als „arabisch“ oder als „muslimisch“ angesehen werden, wenn Menschen mit bestimmten Frisuren, Gesten oder Kleidungsstilen als „schwul“ erkannt werden – müssen sie das gar nicht sein. Es ist der Blick der anderen, der zu Benachteiligungen und Gewalt führt, die vermeintliche Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Ob jemand tatsächlich Frau, Migrant_in, jüdisch, lesbisch oder muslimisch ist, spielt keine Rolle für ein Diskriminierungsgeschehen.
Von der Frage „Woher kommt dein Name?“ über Sätze mit „bei uns“/„bei euch“ bis hin zu vielen anderen Pauschalisierungen ist die Feststellung von „Eigenem“ und „Fremden“ eminent wichtig. Die Entscheidung, ob jemand dazugehört oder nicht, erfolgt immer durch die entscheidende Stelle oder Person und damit nicht in einem gleichberechtigten Austausch, sondern immer vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Individuelle Ansichten über diese oder jene Gruppe sind immer gesellschaftlich vermittelt – über das Kindergartenlied, die Befragung in der Schule oder die Fernsehdokumentation. Es gibt keinen Begriff und keine individuelle Einstellung, die nicht in einem gesellschaftlichen Rahmen erworben worden wären. Die Debatten um rassistischen Sprachgebrauch in Kinderbüchern zeigen, wie tief in den Alltag vermeintlich neutrale Bezeichnungen eingeschrieben sind. Wenn die betreffenden Bezeichnungen so „neutral“ wären, wie behauptet wird, warum fühlen sich ihre Befürworter_innen dann so heftig in ihrer Identität angegriffen?
Unser Gesellschaftsleben ist zutiefst, von den Grundfesten bis zur sogenannten Hochkultur, ethnisiert, wie es auch vergeschlechtlicht ist. So wie bestimmte Männlichkeiten und bestimmte Weiblichkeiten mehr Akzeptanz erfahren als andere, werden auch bestimmte Ethnizitäten (und seit einiger Zeit auch wieder: Religiositäten) mehr akzeptiert als andere. Hierarchisierungen von Ethnizität ziehen sich durch die Mehrheitsgesellschaft wie auch durch die Minderheitengesellschaften: Das rassistische Spiel „Ich gehöre dazu, du nicht“ wird nicht nur weißen, christlich erzogenen Deutschen beigebracht. Beispielsweise in den Auseinandersetzungen um die Einwanderung von Roma aus Südosteuropa wird das Teile-und-herrsche-Angebot auch von türkeistämmigen und anderen Migrant_innen angenommen – wie auch Teile feministischer und queerer Szenen gern mitmachen, wenn sich über die Konstruktion von „muslimischem Sexismus“ oder „muslimischer Homophobie“ eine Gelegenheit für die Aufwertung der „eigenen“ Gruppe bietet.
3. Was tun?
Eine der Auswirkungen von ökonomischen Ungleichheiten zwischen Ländern und Regionen sind Flucht- und andere Migrationsbewegungen. Von der Versorgung von Kindern, Kranken, Alten und Menschen mit Behinderungen über haushaltsnahe Dienstleistungen bis hin zur Sexarbeit wären viele Bedürfnisse in der Bundesrepublik ohne Einwanderung nicht mehr zu befriedigen. Die Weigerung, ein integriertes Gesamtschulwesen einzuführen, die Verkürzung von Krankenhausliegezeiten, die Begünstigung von Erziehung und Pflege zu Hause sowie einzelne Errungenschaften bei der Gleichberechtigung der Geschlechter können nur aufrechterhalten werden, weil restriktive Migrationsregime zum einen viele draußen halten und zum anderen den Zuzug von manchen gestatten. Die Bedingungen für Fortschritte in der Gleichstellung von Frauen, die solche (Für-)Sorge-Arbeit vor allem übernehmen, werden nicht durch eine andere Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, sondern über die Auslagerung der (Für-)Sorge-Arbeit an „andere“ (migrantische und/oder arme) Frauen hergestellt. Die Rede von der „Festung Europa“ beschreibt eine Realität – eine andere Realität ist aber, dass die Grenzen dieser Festung insbesondere für prekäre Care-, Bau- oder Saisonarbeit (in der Landwirtschaft etwa) durchaus durchlässig sind. Eine bloße Diversity-Politik, die „Vielfalt“ von Merkmalen in den Mittelpunkt stellt, aber die geschichtlichen und sozialen Rahmenbedingungen ausblendet, stellt sich in den Dienst einer liberalistischen Idee („Alle können alles werden, wenn sie sich nur genug anstrengen“), die am Ende zu Konkurrenzen zwischen einzelnen „Identitäten“ führt.
Schulische und außerschulische Bildung steht oft zu Unrecht allein im Fokus, wenn es um die kritische Thematisierung von Menschenfeindlichkeit geht, weil dort der gesellschaftliche und staatliche Zugriff auf Kinder und Jugendliche so groß ist wie an keinem anderen Ort. In den letzten Jahren ist eine regelrechte Inflation von Methoden und Konzepten zu verzeichnen, die in der Bildungsarbeit auf „Vielfalt“ oder „‹Heterogenität“ setzen. Dabei gerät zunehmend in den Hintergrund, dass (schulische) Bildung zugleich einer der wichtigsten Orte ist, an dem gesellschaftliche Ungleichheit produziert und reproduziert wird. Die Einsicht in das Wechselverhältnis von Differenz und hierarchisierender Differenzierung könnte dabei zu einem neuen Bildungsverständnis führen, auf dessen Grundlage eine solide Kritik an Ungleichbehandlung in all ihren Formen formuliert werden könnte. Eine emanzipatorische Bildung muss der Komplexität gesellschaftlicher Zustände gerecht werden, die immer auch ihren Niederschlag in lebbaren Identitäten finden, die nicht in Stein gemeißelt, sondern flexibel sind. Wenn der Bildung die Aufgabe zukommen soll, autonome Entscheidungsfindung und Handlungsorientierung zu ermöglichen, darf sie weder bei einem unkritischen Subjektbegriff noch bei einem unhinterfragten Begriff der Verschiedenheit stehenbleiben.
Zu einer zukünftigen emanzipatorischen Bildung muss sicherlich ein zeitgemäßes Verständnis von Ungleichheit gehören, aber auch der Abbau aller Arten von Barrieren, die den Zugang zu dieser Bildung blockieren. Die Orientierung an der eigenen Lebenswelt bietet einen Dreh- und Angelpunkt für intersektionale Ansätze, denn weder Bildner_innen noch die an Bildungsprozessen Teilnehmenden befinden sich im luftleeren Raum. Dieses Zugeständnis an sich und die Gruppe ist gerade deswegen wichtig, weil Bildungsprozesse in den meisten Fällen in zeitlich befristeten, räumlich begrenzten Kontexten ansiedelt werden. Selbst wenn sie als „sichere Räume“ konzipiert sind – und im Idealfall als solche funktionieren –, findet Lernen in einer gesellschaftlichen Umwelt statt, die solche „geschützten Biotope“ in der Regel nicht vorsieht. Vorherige Erfahrungen wie auch eine Lebenswelt, in die die Teilnehmenden dann entlassen werden und die eben fundamental anders ist, stellen Unwägbarkeiten dar, die von der Konzeption über die Durchführung bis hin zu einem Abschlussbericht, der ggf. notwendig ist, berücksichtigt werden müssen. Es lohnt sich deswegen immer, eigene Erfahrungen mit Macht und Ohnmacht zu reflektieren und (sich) die eigenen Anteile am Bildungsprozess – inklusive eigener Unzulänglichkeiten – möglichst bewusst zu machen.
Dabei lässt sich Komplexität nicht beliebig erhöhen. Altersgerechte und nicht-diskriminierende Sprache und Bilder, die verschiedene Formen der Diskriminierung in ihren Überlappungen und Gleichzeitigkeiten thematisieren und das Lokale mit dem Globalen verbinden – oder zumindest einer solchen Abstraktion nicht den Weg verbauen –, müssen oft erst entwickelt werden. Eine kritische Bestandsaufnahme dessen, was „geht“ und was „fehlt“, wird immer auch auf die Möglichkeiten und die Grenzen von Bildung schauen müssen. Die Vergewisserung, dass Bildung nicht alles kann – aber auch nicht alles können muss –, wird zum Kernbestand dessen gehören, was als pädagogische Haltung beschrieben werden kann. Die Sprachlosigkeit, die sich bisweilen in ungeplanten und unerwarteten Situationen einstellt und unter der nicht nur viele Teilnehmende, sondern auch Bildner_innen leiden, ist ein Produkt von Gesellschaft. Ihre Überwindung kann deswegen auch nur gesamtgesellschaftlich gelingen.
Über den Autor
Koray Yılmaz-Günay ist Referent für das Themengebiet Migration und stellvertretender Direktor der Akademie für Politische Bildung bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Anfang 2014 ist im VSA: Verlag sein Buch «Realität Einwanderung. Kommunale Möglichkeiten der Teilhabe, gegen Diskriminierung» erschienen (gemeinsam mit Freya-Maria Klinger).
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